Alle sprechen über den digitalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Auch Gewerkschaften und Betriebsräte können von neuen Technologien wie selbstlernender Software profitieren. Einige Ansätze, wie eine digitale Transformation der Gewerkschaften aussehen könnte.
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Seit vielen Jahren wird unser Leben stetig digitaler – im Job und privat. Doch der größte Schritt des digitalen Wandels steht uns noch bevor: der Einsatz selbstlernender Software. Um das Ausmaß zu verdeutlichen, zitieren ExpertInnen gerne das Moorsche Gesetz. Der Mitgründer der Firma Intel, Gordon Moore, hatte bereits 1965 vorausgesagt, dass sich die digitale Rechnerleistung alle zwei Jahre verdoppeln wird. Das lässt sich gut so verdeutlichen: Nimmt man die 64 Felder eines Schachbretts und legt auf das erste Feld ein Weizenkorn, auf jedes weitere Feld die doppelte Anzahl des vorigen, so benötigt man insgesamt 9,2 Trillionen Weizenkörne für das gesamte Brett. Auf LKWs geladen würde dies eine Reihe ergeben, die 232 000 Mal um die Erde reicht. Aktuell befindet sich die digitale Evolution etwa auf der Hälfte des Schachbretts. Die gravierenden Umbrüche stehen also noch an.
Erste massentaugliche KI-Anwendungen sind Vorboten. In der Logistik, im Verkehr, der Medizin und bei der Übersetzung von Fremdsprachen wird selbstlernende Software heute bereits eingesetzt – mit Erfolg. Computer finden auf CT-Aufnahmen mittlerweile verlässlich bösartige Veränderungen im menschlichen Gewebe. Auch die Entwicklung von lernender Software im Computer selbstfahrender Autos oder bei der Gesichtserkennung ist weit fortgeschritten. Wöchentlich gibt es neue Projekte. So arbeitet die Bundeswehr an einer Software, die Krisen und Kriege vorhersagen soll. Dazu werden Daten aus verschiedenen Datenbanken, Social-Media-Kanälen und Geheimdienstquellen eingespeist. Die KI soll in dem Datenmeer Muster erkennen, die auf bevorstehende Konflikte und Krisen hinweisen. Für alle KI-Projekte gilt: Je mehr Daten, um so genauer die Vorhersage.
Große Fortschritte gibt es auch in Bereichen, die für die gewerkschaftliche Arbeit von Interesse sind: dem Bereich der Legal Tech – also digitaler Technologie, die in der Rechtsberatung und –findung eingesetzt wird. So wächst die Zahl von Tools, mit denen VerbraucherInnen ihre rechtlichen Ansprüche gegen Vermieter, Fluganbieter oder auch den Arbeitgeber berechnen lassen können. Das Programm Abfindungsheld ermittelt, wie hoch die persönliche Abfindung ist, nachdem der Chef einem Beschäftigten gekündigt hat. Gibt es Ansprüche, übernehmen Partneranwälte des Dienstes den Auftrag und klagen gegen den Arbeitgeber. Als Gage sind 35 Prozent der Abfindung fällig.
Der Geschäftsführer eines Start-Ups und Rechtsanwalt, Dr. Micha-Manuel Bues, erläutert: „Im Verbraucherschutz funktioniert automatisierte Entscheidungsfindung bereits gut. Bestimmte Tools können mit juristischen Regeln gefüttert werden. Der Nutzer muss dann einen Fragenkatalog beantworten, der die Basis für die rechtliche Bewertung bildet.“ Im Prinzip handelt es sich um eine automatisierte Wenn-Dann-Abfrage. Die meisten Startups im Bereich Legal Tech arbeiten mit Entscheidungsautomationen, erklärt Bues. Gerade im Arbeits- und Mietrecht gebe es noch viel Luft nach oben. Ähnlich funktionieren Chatbots, die zu bestimmten Themenfeldern mit tausenden Fragen und Antworten gefüttert wurden. Teilweise sind sie imstande unterschiedliche sprachliche Bedeutungen zu interpretieren.
Ein mögliches Einsatzszenario dieser Systeme wäre die gewerkschaftliche Onlinearbeit. Dort könnten automatisierte Chatbots NutzerInnen eine erste Orientierung bei rechtlichen Problemen im Job bieten. Diese könnten in internen Netzwerken Gewerkschaftsmitglieder bei einfachen Anliegen beraten. Wo finde ich Rat bei einem betrieblichen Problem? Wann steht die nächste Tarifrunde an? Wer ist mein/e gewerkschaftliche/r AnsprechpartnerIn? Viele Infos gibt es zwar im Netz. Ein Bot könnte diese bündeln und auf Fragen reagieren. Es gilt allerdings auch: Komplizierte Anfragen zur tariflichen Eingruppierung oder zu rechtlichen Aspekten würden weiterhin von GewerkschaftssekretärInnen beantwortet. Diese hätten allerdings mehr Zeit, da die digitalen Helfer sie entlasten. Zudem könnten Bots im Internet und in den sozialen Netzwerken neue Mitglieder werben, indem Sie bis zu einem bestimmten Punkt weiterhelfen. Den finalen Rat gibt es, wenn die Person Mitglied geworden ist.
Für Entlastung könnten KI-Anwendungen auch in der betrieblichen Mitbestimmung sorgen. Wie hoch darf die Raumtemperatur im Sommer sein? Welche Folgen hat die neue Datenschutz-Grundverordnung für unseren Betrieb? Dürfen befristet Beschäftigte in den Betriebsrat gewählt werden? Eine Anwendung, die hier schnell Antworten liefert und vorsortiert, entlastet den Betriebsrat. „Häufig gibt es im Betrieb auch Anfragen, bei denen nicht sofort klar ist, welche Vereinbarung oder welches Gesetz nun passt. Ein trainiertes Tool kann dort weiterhelfen“, sagt Welf Schröter vom Forum Soziale Technikgestaltung. Seit fast 30 Jahren berät er Betriebsräte und Gewerkschaften zu digitalen Themen. „Viele Jahre hatten wir es mit einer nachholenden Digitalisierung zu tun. Die Technik gab es bereits, allerdings hat sich die Einführung über Jahre gezogen.“ Vieles konnte deshalb mit Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Künstliche Intelligenz sei anders. Bevor diese in Betrieben implementiert wird, müsse aber klar sein, was die Software darf und nicht darf.
Mit rund 25 ArbeitnehmervertreterInnen hat Schröter das Projekt „BetriebsratsArbeit auf Basis ,autonomer Software-Systeme‘“ (BABSSY) ins Leben gerufen. Gemeinsam überlegen sie, wie Betriebsräte autonome Softwaresysteme nutzen können. „Im nächsten Workshop werden wir Szenarien durchspielen, um uns über Konstellationen und Einsatzbereiche klar zu werden.“ Es geht unter anderem um die Überlegung, mit einer Betriebsrats-KI die KI-Systeme im Unternehmen zu überwachen. Eines steht aber schon jetzt fest: „KI in der Arbeitswelt muss immer transparent bleiben – für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen. Es darf nie möglich sein, dass Software sich selbst umprogrammiert“, so Schröter.
Schon heute gibt es etliche Anbieter, die Bausätze für Chatbots und ähnliche Anwendungen bereitstellen. Eine Betriebsrats-KI, die es mit Anwendungen in Unternehmen aufnehmen kann, müsste allerdings noch konzipiert und programmiert werden – am besten in Eigenregie, um unabhängig zu bleiben. Eine Herausforderung auf vielen Ebenen. Es geht neben technischen, finanziellen, personellen Ressourcen auch um die Frage, ob und wie Gewerkschaften/Betriebsräte Daten aus Arbeitsprozessen nutzen wollen. Zudem gilt es zu klären, wem die Daten gehören. DGB-Digitalexperte Olli Suchy betont: „Für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Betrieb braucht es bereits bei der Entwicklung eine Verständigung, welchen Zielen die lernenden Systeme folgen. Dies ist die Grundlage für den gesamten Change-Prozess, also für Qualifizierungsfragen, Belastungsanalysen usw. Vor allem muss die Nutzung der (meist auch persönlichen) Daten verhandelt werden. Hier geht es oft um Zielkonflikte, die am Beginn gelöst werden sollten. So kann KI für eine Humanisierung der Arbeit genutzt werden.“