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"24-Stunden-Pflege": Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg meldet grundsätzliche Bedenken an verbreitetem Modell der Altenpflege an.
Sich zu wehren lohnt sich – auch für Beschäftigte in der "24-Stunden-Pflege". Das ist das Signal, das das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Mitte Juli aussandte. Im Berufungsverfahren um Lohnnachforderungen einer bulgarischen "24-Stunden"-Betreuerin kündigte die Kammer einen Vergleichsvorschlag an. Kommt die Einigung zustande, könnte die Klägerin bald schon Lohnnachzahlungen in Höhe eines fünfstelligen Eurobetrages erhalten.
Es handelt sich um die Fortsetzung einer Auseinandersetzung, über die "Faire Mobilität" mehrfach berichtet hatte. Die Beschäftigte, Frau Alekseva (Name geändert), aus Bulgarien, hatte über mehrere Jahre eine deutsche Seniorin in ihrer Wohnung in einer Senioreneinrichtung betreut. Vermittelt worden war das Arbeitsverhältnis über eine große deutsche Seniorenpflege-Agentur, angestellt war Frau Alekseva bei einer bulgarischen Firma. Ihr Vertrag sah eine Arbeitszeit von 30 Wochenstunden vor, tatsächlich aber musste sie rund um die Uhr für Pflege und Hilfestellungen zur Verfügung stehen. Untergebracht war Frau D. in der Wohnung der von ihr betreuten 96-Jährigen. Die Tür zu ihrem Zimmer musste sie nachts offen lassen, um im Notfall zur Stelle zu sein. Faktisch wurde von ihr eine Rund-um-die Uhr-Bereitschaft erwartet.
Mit gewerkschaftlicher Unterstützung hatte Frau Alekseva vor dem Berliner Arbeitsgericht geklagt und auf Basis des seit 2015 geltenden gesetzlichen Mindestlohnes Lohnnachzahlungen in Höhe von rund 40.000 Euro geltend gemacht. Im August 2019 bekam sie in erster Instanz Recht. Dagegen legte die bulgarische Firma Berufung ein, die nun verhandelt wurde.
Die Vorsitzende Richterin machte deutlich, dass die ganze Vertragsgestaltung "jede Menge widersprüchlicher Angaben" enthalte. So war etwa zugleich eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden und eine Sechs-Tage-Woche vereinbart, was schon rein rechnerisch nicht aufgehe. Der Vertrag enthielt einerseits eine Klausel, mit der die Beschäftigte erklärte, "keine Überstunden zu leisten". Andererseits verpflichtete sie der Betreuungsvertrag, rund um Uhr für soziale Aufgaben, Hilfestellung beim Essen, Ankleiden, der Körperpflege da zu sein, Gesellschaft zu leisten und sogar "gemeinsame Interessen zu verfolgen".
Obwohl ihr der Vertrag eigentlich – samstags oder sonntags – einen freien Tag in der Woche zusicherte, wurde von der Beschäftigten erwartet, dass sie sieben Tage die Woche zur Verfügung steht. Die Vorsitzende Richterin zitierte aus einem 2016 verfassten Schreiben der bulgarischen Firma an den Sohn der Seniorin. Darin wurde über die Freizeitregelung berichtet. Diese Freizeit könne man am Stück als einen freien Tag pro Woche gewähren oder aber stundenweise »auf die einzelnen Tage verteilen«, heißt es darin. Beide Aussagen wertete das Gericht als Indizien für die rechtliche Fragwürdigkeit des Arbeitssituation: Die "Empfehlung" einen freien Tag pro Woche zu gewähren, zeige, dass es bis dahin offenbar üblich war, die Leistung der Beschäftigten an sieben Tagen der Woche in Anspruch zu nehmen. Mit dem Arbeitszeitgesetz ist das genauso wenig vereinbar, wie der Vorschlag, den gesetzlich vorgeschriebenen wöchentlichen Ruhetag aufzuteilen.
Das Gericht halte es "grundsätzlich mindestens für bedenklich", dass eine Betreuungskraft auf Dauer in derselben Wohnung mit einer Person lebt, "die einen Betreuungsbedarf von letztlich 24 Stunden hat", betonte die Richterin. "Wie soll sich die Klägerin abgrenzen von der alten Dame und deren Bedürfnisse zurückweisen? Wie soll sie ihre Arbeitszeit auf sechs Stunden täglich beschränken?" So ergebe sich "schon aus den Indizien, dass ein Vertrag über 30 Stunden nicht ernstgemeint sein kann".
Trotz allem wurde deutlich: Das Gericht sieht bei einer Fortsezung des Verfahrens bis zu einem Urteil auch Risiken. Eine weitere Beweisaufnahme könnte notwendig sein, die sich allerdings schwierig gestalten dürfte, weil sowohl die beklagte Firma als auch die Klägerin in Bulgarien sind. Und auch wenn Bulgarien Mitglied der EU ist, befürchte man, dass es im Fall eines für das Unternehmens teuren Urteils zu Vollstreckungsproblemen kommt und die Klägerin am Ende leer ausgehe. Um eine pragmatische Lösung zu erreichen, will die Kammer nun einen konkreten Vergleichsvorschlag ausarbeiten. Damit dieser wirksam wird, muss er nicht nur von beiden Parteien akzeptiert werden – es muss auch tatsächlich Geld fließen. Nur wenn die noch zu vereinbarende Summe fristgerecht auf dem Konto der Klägerin eingeht, ist der Rechtsstreit vom Tisch, betonte die Vorsitzende.
Unberührt vom Ausgang dieses Verfahrens ist eine weitere anhängige Klage der Beschäftigten, in der es um Forderungen aus dem Jahr 2016 geht. Der im Januar eröffnete Prozess soll in der zweiten Jahreshälfte 2020 fortgesetzt werden.
"24-Stunden-Pflege" ist für die involvierten Betreiber ein lukratives Geschäftsmodell – und für den deutschen Staat eine Möglichkeit, sich aus seiner Verantwortung für die Daseinsvorsorge älterer Menschen zu stehlen. Zwischen 100.000 und einer halben Million meist osteuropäischer Migrantinnen leben und arbeiten Expertenschätzungen zufolge in deutschen Haushalten, um pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren zu betreuen. Die meisten von ihnen arbeiten unter extrem prekären Bedingungen, meist ohne den Schutz durch das deutsche Arbeitsrecht. Obwohl das Beschäftigungsmodell offensichtlich gravierend gegen elementare Grundsätze des deutschen Arbeitsrechts verstößt, drückt die Politik seit Jahren die Augen zu.
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