Deutscher Gewerkschaftsbund

17.05.2019
Artikel

Der dreckige Alltag auf Europas Straßen

Ein Unterbietungswettbewerb beherrscht den LKW-Fernverkehr auf Europas Autobahnen. Die Arbeitsbedingungen sind unmenschlich, die EU muss gegensteuern. Damit sich wirklich etwas zum Besseren bewegt, muss die gewerkschaftliche Gegenmacht gestärkt werden.

LKW Alltag

Faire Mobilität

Ein ganz normaler Dienstagnachmittag auf der Autobahnraststätte Michendorf am Berliner Ring, kurz vor Potsdam: Zwei Dutzend LKW stehen herum, wenig im Vergleich zu den Wochenenden, wo hier die Hölle los ist. Viele Fahrer dösen in ihren Fahrerkabinen vor sich hin. Jetzt, Ende März, ist das noch ganz angenehm, in zwei, drei Monaten wird das Cockpit vielleicht schon zum Backofen.

Mit einem lauten Geräusch springt das Kühlaggregat in einem der Laster an. Es sitzt direkt hinter Kabine des Fahrers. Wie kann man bei diesem Lärm schlafen? Der Fahrer scheint daran gewöhnt zu sein. Die Kühlung der Fracht ist wichtiger als alles andere. 

Michael Wahl vom DGB-Projekt »Faire Mobilität« geht über den Parkplatz und nimmt die vorderen Nummernschilder der Sattelschlepper in Augenschein. »Die vorderen Nummernschilder – die der Zugmaschinen – das sind die interessanten«, sagt Wahl. Die Zugmaschinen haben osteuropäische Kennzeichen: aus Polen, Belarus, Bulgarien, Rumänien, der Ukraine. Die Auflieger mit der Fracht sind dagegen fast alle in Deutschland zugelassen. Osteuropäische Trucks mit osteuropäischen Fahrern transportieren Fracht für deutsche Auftraggeber durch Europa. In diesem Bild konzentriert sich das komplette Geschäftsmodell des europäischen LKW-Fernverkehrs.

Michael klopft an ein Seitenfenster. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter. Michael drückt ihm einen Flyer in die Hand. In polnischer Sprache wird darin erklärt, welche Rechte ausländische LKW-Fahrer in Deutschland haben. Beide unterhalten sich auf polnisch. Grigori, der Fahrer, ist Ukrainer und arbeitet für eine Spedition in Ostpolen, kurz vor der Grenze zu seiner Heimat. Die sieht er allerdings nur alle zwei Monate. Sechsmal im Jahr darf er für vierzehn Tage nach Hause, zu seiner Familie. Die mehrstündigen Wartezeiten an der EU-Ostgrenze gehen natürlich von der Freizeit ab. Dazwischen fährt er acht Wochen am Stück kreuz und quer durch Europa, schläft in der Fahrerkabine, auf Parkplätzen, direkt neben der Autobahn.

 

LKW Aktion

Faire Mobilität

Übermüdung, keine Zeit für Pausen und obendrein noch miese Bezahlung: das ist der dreckige Alltag für Bus- und LKW-Fernfahrer auf Europas Straßen. Die meisten Fahrer sind bei osteuropäischen Unternehmen angestellt und fahren für den Mindestlohn ihres Landes – in der Regel um die 500 Euro. Zwar steht ihnen, wenn sie in Deutschland unterwegs sind, der deutsche Mindestlohn zu. Doch die Unternehmen umgehen ihn, indem sie Spesenzahlungen, die eigentlich für Übernachtung und Verpflegung während der Fahrt gedacht sind, auf den Mindestlohn anrechnen. Legal ist das nicht. Aber solange es die Fahrer selbst nicht individuell anfechten, kommen die Unternehmen in der Regel mit ihrem »Spesenmodell« durch. Ihren Anspruch auf den deutschen Mindestlohn durchsetzen können die Fahrer praktisch nur, wenn sie ihn rückwirkend vor Gericht einfordern – was gleichbedeutend mit dem Verlust des Jobs ist. 

Hunderttausende Menschen sind auf Europas Straßen wochen- und monatelang unter solchen Bedingungen unterwegs. Allein dass so viele Menschen diese systematische Ausbeutung hinnehmen, zeigt, wie gering die Chancen auf faire Arbeitsbedingungen am tatsächlichen Arbeitsort sind und wie sehr die Fahrer auf die Jobs angewiesen sind, um ihre Familien zu ernähren. Das bestätigen über 3 000 Fahrer, mit denen sich die Beratungsteams von Faire Mobilität seit Mitte 2017 auf deutschen Parkplätzen unterhalten haben.

»Wir rumänischen LKW-Fahrer nennen uns Kettenhunde, weil wir uns fühlen, als seien wir an den Truck angekettet«, zitierte die Wochenzeitung »Die Zeit« im Februar 2019 einen rumänischen LKW-Fahrer. Im »Notfallbett« (!) des Truck zu übernachten sei für sie »normal«, erzählt er. »Ich habe Kollegen, die verbringen ein halbes Jahr im Truck in Deutschland. Meine längste Tour dauerte vier Monate.« Im Sommer wird es oft so heiß, dass man in der Kabine nicht schlafen kann. Die Klimaanlage, wenn es sie überhaupt gibt, darf nicht laufen, weil sie die Batterien aufbrauchen würde. Jeder Toilettenbesuch auf deutschen Raststätten kostet Geld. Wer auf einen Truckparkplatz fährt, kann riechen, was das bedeutet.

Viele Fahrer arbeiten bis zu 15 Stunden am Stück. Nur beim Entladen machen sie eine kurze Pause. Wer den Motor zwischendurch abstellt und zu viele Pausen macht, verliert seinen Vertrag. Die Trucks haben GPS und sind vollständig überwacht. Verantwortlich dafür sind bei weitem nicht nur Spediteure aus Osteuropa: Westeuropäische Firmen tragen das System mit. Entweder indem sie als Generalunternehmer Aufträge nach Osteuropa vergeben oder indem sie selbst Firmen in Osteuropa gründen, um das Lohngefälle auszunutzen. Dabei handelt es sich nicht selten um Briefkastenfirmen. Weil es auch in den osteuropäischen EU-Staaten für die Unternehmen immer schwieriger wird, zu diesen miesen Bedingungen Fahrer zu finden, werben sie verstärkt Arbeitskräfte außerhalb der EU an: aus Belarus, der Ukraine oder sogar von den Philippinen. »1 000 Euro Monatslohn, null Tage Urlaub, zwei Jahre von der Familie getrennt – schon die nackten Zahlen sind empörend«, schrieb der »Stern« in einer Reportage über LKW-Fahrer von den Philippinen. Zu zweit mussten sie in einer Fahrerkabine arbeiten, schlafen, kochen und leben – falls man das überhaupt leben nennen kann. Ein normales Bett hatten sie in Europa nicht gesehen, bis die niederländische Gewerkschaft FNV und das DGB-Projekt Faire Mobilität auf sie aufmerksam wurden.

 Will die EU nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren, muss sie in dieser Frage handeln. Momentan ist nicht klar, in welche Richtung es gehen wird. Lobbyisten der Fuhrunternehmer drängen auf eine weitere »Deregulierung«, die die Arbeitsbedingungen der Fahrer noch weiter zu verschlechtern droht. Doch noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Wir leben im 21. Jahrhundert, und längst ist es überfällig, entschlossene Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Schwächsten unter den Ausgebeuteten zu ergreifen. Und es gibt greifbare und machbare Lösungen: Den Mindestlohn in den jeweiligen Einsatzländern verpflichtend durchsetzen, die nationalen Kontrollmechanismen stärken, Verstöße hart sanktionieren, ein Rückkehrrecht alle zwei Wochen an den Heimatort gesetzlich verankern. All das ist möglich. Wichtig bleibt, dass sich mehr Fahrer und Fahrerinnen in ihren Gewerkschaften organisieren und dass Gewerkschaften in ganz Europa aktiv auf die Fahrerinnen und Fahrer zugehen und ihnen ein Angebot machen: Gemeinsam können wir unsere Arbeitsbedingungen für die Zukunft gestalten.

 


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