Deutscher Gewerkschaftsbund

Juni 2021

Ausgenutzt, betrogen, weggeschickt

Saisonarbeit in der Landwirtschaft

Faire Mobilität

Saisonarbeit in der Ernte: Keine Krankenversicherung, kein Krankengeld, keine Lohnfortzahlung

Samstag, der 27. März, in Bornheim, zwischen Köln und Bonn. Es ist kurz nach 17 Uhr, Marian steht auf der Straße. Die letzten sechs Wochen hat er auf einem Bauernhof in der Nähe gearbeitet, Kartoffeln sortiert und Vorbereitungen für die Spargelernte getroffen, die in vier Wochen starten soll.

Nun wartet er mitten im Nirgendwo bei ein paar Grad über Null auf den Bus, der ihn zurück nach Rumänien bringen soll. Der Bus hat keinen festen Fahrplan. Wann er durch Bornheim fährt, ob er überhaupt kommt – Marian weiß es nicht genau. Er hat nur die Handynummer des Fahrers, aber weil der Akku seines eigenen Telefons in der Kälte längst aufgegeben hat, kann er ihn nicht anrufen. Gegen 23 Uhr kommt der Bus dann doch noch.

Marian ist einer von rund 250.000 osteuropäischen Saisonarbeiter*innen, die jedes Jahr zur Erntezeit nach Deutschland kommen. Ende Februar hatte er seine Arbeit auf dem kleinen Gemüsehof im südlichen Nordrhein-Westfalen begonnen. 48 Stunden pro Woche zu je 9,50 Euro wurden in seinem zweisprachigen Arbeitsvertrag festgehalten. Enden sollte die Arbeit am 22. April.

Doch am 20. März, einem Samstag, quetscht sich Marian bei der Arbeit den Daumen an einer Abfalltonne. Notdürftig versorgt ein Kollege die Verletzung. Erst am Montag, als sich die Wunde bereits entzündet hat, fährt ihn der Bauer zum Arzt. Der schickt ihn gleich weiter ins Krankenhaus, wo die Verletzung ambulant behandelt wird. Marian wird für einen Monat arbeitsunfähig geschrieben.

Marian ist nicht krankenversichert. Weder in Rumänien, wo er sich mit Gelegenheitsjobs auf dem Bau durchschlägt, noch in Deutschland. Damit ist er kein Einzelfall: Die weitaus meisten landwirtschaftlichen

Saisonkräfte sind in Deutschland offiziell »kurzfristig beschäftigt«. Die Arbeitgeber müssen sie bei der Minijobzentrale anmelden, führen für sie aber keine Beiträge ab. Lediglich in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht Versicherungspflicht. Die Bauern müssen ihre Saisonkräfte bei der zuständigen Berufsgenossenschaft, der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG), anmelden. Die übernimmt bei einem Arbeitsunfall die Behandlungskosten – nicht aber bei sonstigen Erkrankungen oder medizinischen Notfällen. Wer etwa aufgrund einer Covid-19-Erkrankung auf die Intensivstation muss, läuft Gefahr, die Behandlungskosten selbst tragen zu müssen.

Aber Marians Verletzung ist zweifellos ein Arbeitsunfall. So vermerkt es auch der untersuchende Arzt auf seinem Bericht. Damit ist klar: Die Berufsgenossenschaft ist zuständig.

Doch nun passiert etwas Seltsames: Der Bauer will die Arztrechnung aus eigener Tasche zahlen. Und er hat es sehr eilig, den verletzten Marian so schnell wie möglich wieder nach Rumänien zu schicken. Der nächste Bus nach Rumänien fährt erst am Samstag. Bis dahin darf Marian in der Unterkunft bleiben. Von der Lohnfortzahlung, die ihm zusteht, solange sein Arbeitsverhältnis nicht gekündigt ist, sieht er keinen Cent. Im Gegenteil: Als er am Abreisetag seinen Lohn bekommt, fehlen 200 Euro. Marian hat sich täglich seine  Arbeitszeiten notiert, nach seinen Aufzeichnungen hat er 246 Stunden gearbeitet. Auf dem Notizzettel, den  ihm der Bauer als »Lohnabrechnung« überreicht, stehen nur 224 Stunden.

Marian befürchtet,dass der Bauer ihm die Arztkosten so doch noch vom Lohn abgezogen hat und wendet sich an die Beratungsstelle von Faire Mobilität in Dortmund. Schnell ist ein Kontakt zur Gewerkschaft IG BAU hergestellt, der Marian beitritt, um seine Forderungen geltend machen zu können. Die zuständige Gewerkschaftssekretärin versucht zunächst herauszufinden, ob der Arbeitgeber Marian überhaupt bei der Berufsgenossenschaft angemeldet hatte. Dass der Landwirt die Arztrechnung sofort aus eigener Tasche zahlte, ist ungewöhnlich. Zufall? Der Anruf bei der Berufsgenossenschaft bringt keine Klarheit. Aus »Datenschutzgründen«, heißt es, könne man keinerlei Auskünfte geben.

Die Gewerkschaft meldet den Fall der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, jener Einheit der Bundeszollverwaltung, deren Kernaufgabe es ist, Schwarzarbeit, Mindestlohnverstöße und illegale Beschäftigung zu verfolgen und zu verhindern. Ob die Behörde tätig wird, ist nicht zu erkennen, Nachfragen bleiben unbeantwortet.

Unterstützung vom DGB

 »Fälle wie den von Marian haben wir immer wieder«, berichtet Bernadett Petö, Beraterin von Faire Mobilität in Dortmund. Ein zentrales Problem sei dabei die Intransparenz: Wie im Falle von Marian gibt es häufig keine nachvollziehbare Abrechnung und die Lohnauszahlung erfolgt erst am letzten Tag: »Wenn etwas nicht stimmt, können die Beschäftigten nicht mehr viel dagegen unternehmen.«

Offiziell gilt auf deutschen Feldern der gesetzliche Mindestlohn – aktuell 9,50 Euro die Stunde. In der Praxis wird diese Untergrenze jedoch oft unterlaufen: durch rechtswidrige Akkordregelungen, unbezahlte  Mehrarbeit, intransparente Abrechnung.Gelegentlich werden Arbeitskräfte auch als »Praktikant*innen« deklariert. Und für die Unterkünfte, die in der Regel durch die Agrarbetriebe selbst bereitgestellt werden, ziehen diese mitunter überhöhte Kosten vom Lohn ab, ebenso wie überhöhte Sätze für Verpflegung und andere Sachleistungen. So kassieren die Arbeitgeber doppelt und dreifach.

2020: Luftbrücke in der Pandemie

Wie stark die deutsche Landwirtschaft von schlecht bezahlten Arbeitskräften aus dem Ausland abhängig ist, zeigt die Corona-Krise wie unter einem Brennglas. Für die »Sicherstellung der Ernährungs- und Versorgungssicherheit in Deutschland«, wie der Bauernverband dramatisch formulierte, wurden im April und Mai 2020 Zehntausende osteuropäische Erntearbeiter*innen per Luftbrücke eingeflogen.

Nach außen hermetisch abgeschirmt, durften noch immer bis zu 20 Personen in einer Unterkunft wohnen. Mindestens 300 landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte sollen sich nach einer Zählung der IG BAU zwischen April und Juli 2020 mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert haben. Trauriger Höhepunkt war der Tod eines 57-jährigen Saisonarbeiters auf einem Spargelhof in Baden-Württemberg am Osterwochenende.

Zudem profitierten die landwirtschaftlichen Betriebe von zahlreichen Sonderregelungen. Dank der Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit konnten Saisonarbeiter*innen bis zu zwölf Stunden täglich eingesetzt werden. Landwirten wurde zudem gestattet, ihre Saisonarbeiter*innen nicht wie bislang 70, sondern 115 Tage ohne Sozialversicherung anzustellen.

Zwar interessierten sich die Medien im Zuge von Corona mehr für die Situation der Erntearbeiter*innen als in den Jahren zuvor. Doch verbessert hat sich wenig. Auch in diesem Jahr wurde die Sozialversicherungsfreiheit trotz Pandemie ausgeweitet. Auch die dringend notwendige Stärkung von Kontrollbehörden steht aus.

Anwerbung jenseits der EU-Grenzen

Kamen vor ein paar Jahren noch viele Menschen aus dem benachbarten Polen zur Ernte nach Deutschland, hat deren Interesse in den vergangenen Jahren stark nachgelassen. Weil die deutschen Agrarbetriebe notorisch schlechte Bedingungen anbieten, gehen die erfahreneren Saisonkräfte lieber ins benachbarte Ausland, etwa nach Dänemark, wo die Löhne höher und die Arbeitsbedingungen besser sind.

Statt die Arbeit auf deutschen Feldern attraktiver zu machen, hat es die Agrarlobby geschafft, die Anwerbung von Arbeitskräften außerhalb der EU auf die politische Agenda zu setzen. Der Versuch, mit der Ukraine ein Abkommen abzuschließen, scheiterte am Unwillen der Regierung in Kiew, ukrainische Staatsbürger*innen ohne Sozialversicherung in Deutschland arbeiten zu lassen. Inzwischen hat die Bundesregierung eine Vereinbarung mit Georgien abgeschlossen: Dieses Jahr sollen bis zu 5000 georgische Saisonarbeiter*innen auf deutschen Feldern arbeiten.

 


Nach oben

Kontakt

Faire Mobilität 
c/o IG Metall, Alte Jakobstraße 149, 10969 Berlin
E-Mail kontakt@faire-mobilitaet.de 
Telefon +49 30 219653721