Wäre der Unfall nicht passiert, hätte Stefka Alekseva* wahrscheinlich bis heute durchgehalten. Es ist ihr nicht leicht gefallen, mehrere Monate von ihren Kindern getrennt in Deutschland zu arbeiten. Aber als gelernte medizinische Fachkraft hat sie gute Chancen auf einen Job in der häuslichen Pflege in Deutschland. Stefka und ihr Mann haben sich entschieden, dass sie für ein paar Monate im Jahr in der sogenannten 24-Stunden-Pflege in Deutschland arbeitet und er sich in der Zwischenzeit um die beiden Kinder kümmert. Die Familie braucht das Geld, auch wenn es sich im Monat lediglich um knapp 1.200 Euro handelt. Denn besonders in der Winterzeit ist es in der bulgarischen Stadt, in der die Familie lebt, sehr schwer Arbeit zu finden.
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Vermittelt wurde Stefka von einer polnischen Agentur, die den osteuropäischen Pflegerinnen und den deutschen Auftrag gebenden Privathaushalten gute Arbeitsbedingungen, Mindestlöhne und soziale Absicherung versprach. Stefka verließ sich auf die Aussagen einer bulgarisch sprechenden Vermittlerin, die ihr das bestätigte, und nahm ihre Arbeit auf. Zeit, um über ihre eigene Lage nachzudenken, blieb ihr kaum. Die Pflege eines älteren Ehepaars, eine gebrechliche Frau und ihr Ehemann in Nordrhein-Westfalen, nahm sie sehr in Anspruch. Sie kochte für die beiden, unterstützte sie beim Essen, half ihnen bei der täglichen Körperpflege, kümmerte sich um den Haushalt, kaufte ein, leistete ihnen Gesellschaft, verabreichte Medikamente und versorgte die beiden Haustiere.
Stefka hatte eine 7-Tage-Woche zu bewältigen. Sie arbeitete täglich von 10 bis 14 Uhr und dann wieder von 16 bis 21 Uhr. Dass sie nach 21 Uhr Feierabend hatte, nachts nicht aufstehen musste, war im Vergleich zu ihren Freundinnen, die ebenfalls als sogenannte 24-Stunden-Pflegekräfte in Privathaushalten arbeiteten, ein Privileg. Dennoch: Die Arbeit war äußerst anstrengend. Stefka fühlte sich oft überfordert, ließ sich Medikamente aus Bulgarien schicken, um den Stress besser bewältigen zu können.
Während eines Einkaufs, den sie mit dem Fahrrad erledigte, verlor sie vollbepackt das Gleichgewicht und stürzte. Die Tochter der Familie brachte sie ins Krankenhaus, wo ein Arzt einen Bruch feststellte. Da sie keine eigene Krankenversicherung hatte, wurde sie als Notfallpatientin behandelt. Zurück in der Familie versuchte sie trotz Schmerzen, mit nur einer Hand, ihrer Arbeit nachzukommen. Doch ein paar Tage nach dem Arbeitsunfall wurde sie von der Tochter der beiden Senioren aufgefordert, die Familie zu verlassen und nach Bulgarien zurückzufahren. Ein Busticket sei schon organisiert. Stefka war irritiert und verunsichert – sie verstand nicht, warum sie weggeschickt werden sollte. Die polnische Agentur reagierte nicht auf ihre Nachfragen, aber eine Freundin riet ihr Kontakt zur Beratungsstelle Faire Mobilität in Dortmund aufzunehmen. Sie sei doch bei der Vermittlungsagentur angestellt, habe doch Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, dies sei ganz eindeutig ein Arbeitsunfall, nahm die Freundin an. Und wie wolle sie überhaupt mit einer gebrochenen Hand und dem Gepäck zurück nach Bulgarien kommen?
Die Beraterin in Dortmund, Justyna Oblacewicz, ahnte schon beim ersten Gespräch, dass Stefka wahrscheinlich nicht über einen Arbeitnehmerstatus verfügte und auch nicht bei der Agentur angestellt war. Bei der Überprüfung der vorgelegten Unterlagen bestätigte sich der Verdacht. Anders als Stefka und ihre Freundin angenommen hatten, hatte sie nicht den Status einer Arbeitnehmerin, sondern arbeitete als Soloselbstständige. Stefka hatte einen dieser Verträge unterschrieben, die in Polen unter dem Begriff „Müllverträge“ („Umowa śmieciowa“) bekannt sind. Dabei handelt es sich um eine zivilrechtliche Vertragskonstruktion, die in Polen schon lange existiert und im Zuge der Liberalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in den letzten Jahren vermehrt Anwendung gefunden hat. Die Beschäftigten haben einen Vertrag und werden damit beauftragt, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Sie verfügen über eine eingeschränkte Krankenversicherung, sind nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, haben keinen Kündigungsschutz, und wenn es mit dem Auftraggeber Konflikte gibt, wird dies nicht vom Arbeitsgericht, sondern vor dem Zivilgericht entschieden. Als Selbstständige und nicht Arbeitnehmerin konnte Stefka, da sie ihren Aufgaben aufgrund des Unfalls nicht mehr nachkommen konnte, unkompliziert und schnell „entlassen“ werden und aufgrund dieses Vertrages hatte sie auch keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ganz zu schweigen von einer Versicherung gegen die Folgen eines Arbeitsunfalls durch vorherige Einzahlung in die Unfallkasse. Das, was ihr die Agentur nach dem Einschalten der Beraterin als Krankenversicherung zugesichert hatte, entpuppte sich lediglich als Reisekrankenversicherung. Zudem enthielt der Vertrag weitere krude Vereinbarungen:
So wurden ihr Schulungskosten für einen Deutschkurs vom wöchentlichen Lohn abgezogen, obwohl sie nie einen solchen besucht hatte. In ihrem Vertrag stand auch, dass zu ihren Aufgaben die Rekrutierung neuer Pflegekräfte in Polen gehöre. Mit diesem Trick, berichtet Justyna Oblacewicz, erhalten die Vermittlungsagenturen ohne große Probleme A1-Bescheinigungen vom polnischen Sozialversicherungsträger. Denn für eine Person, die in mehreren EU-Ländern eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, regelt die EG-VO 883/2004, dass das Sozialversicherungsrecht des Landes gilt, in dem die Person den wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt. Offensichtlich nutzen die Agenturen diese Verordnung, da sich so die Möglichkeit eröffnet, die Sozialabgaben für die als selbstständig geltenden Pflegekräfte, die nach Deutschland entsendet werden, in Polen abzuführen, was erheblich günstiger ist. Dies erklärt die seltsame Vertragskonstruktion mit Haupt- und Zusatzaufträgen, verteilt auf verschiedene Länder. Aber Stefka hat noch nicht einen Fuß auf polnischen Boden gesetzt und sie besaß nicht einmal eine A1 Bescheinigung.
Die dubiosen und intransparenten Strukturen zeigen, dass die polnischen Agenturen Schlupflöcher suchen, um Mindestlöhne und Arbeitszeitregelungen zu umgehen und die Kosten für die soziale Absicherung der Pflegekräfte möglichst niedrig zu halten. Auch wenn sie den Angehörigen der Pflegebedürftigen und den Pflegekräften das Gegenteil suggerieren, übernehmen diese Agenturen keine Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflegenden. Es wird geschätzt, dass allein in Deutschland derzeit 300.000 Pflegekräfte aus Osteuropa arbeiten, die rund um die Uhr und in der Wohnung der Pflegebedürftigen tätig sind. Vielen geht es so wie Stefka. Sie haben weder genügend Informationen über die Betreuungssituation vor Ort, noch über ihre Vergütung und den Umfang ihrer sozialen Absicherung. Oft stellt sich erst nach ihrer Ankunft heraus, dass die Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen, katastrophal sind.
Aber zurück zu Stefka. In ihrem Vertrag findet sich zudem eine Liste „verhaltensbedingter Vergehen“, die eine hohe Vertragsstrafe nach sich ziehen können. So wäre unter anderem 1.250 Euro fällig, wenn Stefka das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der Kündigungsfrist beenden würde. Würde sie nicht genau das tun, wenn sie der Aufforderung der Tochter Folge leisten und sich einfach in den Bus nach Bulgarien setzen würde? Justyna Oblacewicz von Faire Mobilität riet ihr daher ein Kündigungsschreiben aufzusetzen und klärte sie über die Möglichkeit auf, vor Gericht die Anerkennung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses zu erstreiten. Da dies aber sehr langwierig und aufwendig sein kann und Stefka in Deutschland ohne Wohnung und finanzielle Rücklagen dastehen würde, entschied sie sich gegen einen Rechtsstreit. Von der Agentur enttäuscht und im Stich gelassen, beschloss sie so schnell wie möglich nach Bulgarien zurückzufliegen. Zurück zu Hause versuchte sie die ihr entstandenen Flugkosten von der Agentur erstattet zu bekommen, ohne Erfolg. Über ein Jahr später versucht sie nun herauszufinden, ob sie wegen der fehlenden Krankenversicherung noch eine Rechnung für die Krankenhauskosten fürchten muss. Hätte sie gewusst, dass wenige Monate Arbeit in der häuslichen Pflege in Deutschland so viele Probleme verursachen, sie hätte sich dagegen entschieden.
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