"24-Stunden-Pflege" und "Betreuung rund um die Uhr", nicht in einem Altenheim, sondern in der vertrauten häuslichen Umgebung: Das Versprechen, mit dem eine inzwischen kaum noch überschaubare Branche wirbt, hört sich gut an. Doch was nach einer menschenwürdigen Alternative zur Unterbringung alter Menschen in Pflegeheimen klingt, hat eine hässliche Kehrseite.
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Wie die aussieht, zeigt exemplarisch der Fall einer bulgarischen "24-Stunden-Pflegerin", in dem das Arbeitsgericht Berlin im August ein Urteil fällte. Die bulgarische Staatsbürgerin Frau Alekseva (Name geändert) war seit Juni 2013 über eine deutsche Vermittlungsagentur als 24-Stunden-Pflegerin und Haushaltshilfe nach Deutschland gekommen. Hier betreute sie von Januar 2014 bis Ende September 2016 eine 96-jährige Seniorin in deren Wohnung in einer Seniorenresidenz.
Angestellt war Frau Alekseva während der Zeit nacheinander bei zwei verschiedenen bulgarischen Firmen, die beide unter dem Dach derselben deutschen Vermittlungsagentur agierten. Ihr erster Arbeitsvertrag sah eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden bei einem Entgelt von umgerechnet 400 Euro vor. Im April 2015 bekam sie dann über eine andere bulgarische Firma einen neuen Arbeitsvertrag im Umfang von nur noch 30 Stunden und einem Entgelt in Höhe von 1.562 Euro brutto. Nach Abzug aller Nebenkosten für Steuern, Krankenversicherung, Unfallversicherung sowie nicht näher definierte "Zusatzausgaben für die Realisierung der Tätigkeit" erhielt sie monatlich 950 Euro. Frau Alekseva war im Besitz einer sogenannten A1-Bescheinigung, die bestätigte, dass sie über das bulgarische System sozialversichert war.
30-Stunden-Woche und 24-Stunden-rund-um-die-Uhr-Betreuung – wie passt das zusammen? Gar nicht: Tatsächlich musste Frau Alekseva während der gesamten Zeit rund um die Uhr für Pflege-, Betreuungs- und Haushaltstätigkeiten zur Verfügung stehen, es gab keine festgelegten Freizeiten und auch keinen bezahlten Urlaub.
All das wäre weiter so gelaufen, wenn Frau Alekseva nicht etwas getan hätte, was Beschäftigte in ihrer Situation nur sehr selten tun: Sie informierte sich über ihre Rechte und zog vor Gericht. Nach einer ausführlichen Beratung in einer DGB-Beratungsstelle für mobile Beschäftigte entschloss sie sich, zunächst für den Zeitraum ab April 2015 bis Ende 2015 einen Lohnanspruch über die gesamte Arbeits- und Bereitschaftszeit – also 24 Stunden täglich – gegen ihren letzten Arbeitgeber einzuklagen. Die Forderung lag bei rund 45.000 Euro brutto abzüglich der gezahlten Vergütung in Höhe von knapp 6.700 Euro.
Da die bulgarische Firma nicht zu einem Vergleich bereit war, entschied das Gericht und gab der Klage auf Lohnnachzahlung statt. Die dargelegte Argumentation von Frau Alekseva in Bezug auf die 24 Stunden umfassende Arbeits- bzw. Bereitschaftszeit sei nachvollziehbar und schlüssig. Für unglaubhaft hielt das Gericht dagegen die Darstellung des Arbeitgeber. Der Anwalt der bulgarischen Firma hatte entgegnet, Frau Alekseva habe sonntags frei gehabt -- was nicht stimmte. Auch habe sie freie Zeit "stundenweise" im Laufe der Woche nehmen können – etwa während des Mittagsschlafs der zu pflegenden Seniorin. Wie konkret die Arbeitszeit von Frau Alekseva verteilt war und an welchen Tagen sie frei hatte, konnte der Anwalt dem Gericht nicht darlegen. Auch Bereitschaftszeit, so betonten die Richter, müsse aber grundsätzlich vergütet werden – in diesem Fall mit dem damals gültigen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro.
Auch wenn noch keine schriftliche Urteilsbegründung vorliegt und der Arbeitgeber gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen kann, bringt sie juristische Bewegung in eine Grauzone, in der bislang viele Fragen rechtlich nicht geklärt sind. Wer "24-Stunden-Pflege" verlangt, muss auch 24 Stunden bezahlen. Das Urteil, wenn es denn Bestand hat, würde das gängige Geschäftsmodell im wachsenden Markt der "Live-in"-Altenbetreuung radikal in Frage stellen.
Kein bezahlter Urlaub, völlig entgrenzte Arbeitszeiten, keine selbstbestimmte Freizeit, kein Feierabend und kein Wochenende – so sieht der Alltag hunderttausender meist osteuropäischer Pflegekräfte aus, die von scheinbar seriösen Vermittlungsagenturen in deutsche Seniorenhaushalte vermittelt werden. "Einfühlsam", "lebensfroh", "liebevoll", "zuverlässig" – heißt es in der Werbung. Wie viele es wirklich sind, kann niemand auch nur annähernd sagen – Experten schätzen 100.000 bis 400.000, manche sprechen von einer noch höheren Dunkelziffer. Gezahlt wird den Beschäftigten allenfalls der Mindestlohn – und auch dabei wird mit allerlei intransparenten Abzügen getrickst. Zugrunde gelegt wird in der Regel eine Wochenarbeitszeit von 30 bis 40 Stunden. Dennoch müssen die Pflegekräfte 24 Stunden rund um die Uhr für die zu betreuende Person da sein, in deren Haushalt sie zu diesem Zweck untergebracht sind.
Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit liegt auf der Hand, dass hier massenhaft und systematisch gegen geltendes Arbeitsrecht verstoßen wird. Konsequenzen hat das allerdings selten: Staatliche Kontrollen zur Einhaltung der Beschäftigtenrechte gibt es nicht, denn im Grund ist das Modell politisch gewollt. Während etwa im Nachbarland Dänemark Altenpflege als gesamtgesellschaftliche Daseinsvorsorge begriffen, durch die Kommunen organisiert und aus Steuern finanziert wird, hat sich der Staat in Deutschland seit Mitte der 1980er-Jahre aus der Altenpflege immer weiter zurückgezogen. Längst ist sie zu einem Geschäftsfeld privater Unternehmen geworden, denen es vor allem um die Renditen ihrer Investoren geht. Und so klafft mittlerweile eine riesige, politisch verschuldete "Versorgungslücke", die zu einem erheblichen Teil durch osteuropäische (Hilfs-)Pflegekräfte in dubiosen Vertragskonstruktionen geschlossen wird.
Da der Staat bei den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten lieber beide Auge zudrückt, gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Dass Beschäftigte ihre Rechte einklagen, kommt extrem selten vor – allein schon, weil sie sie nicht kennen. Musterverträge, in denen ihnen weisgemacht wird, dass das deutsche Arbeitsrecht keine Anwendung findet, sind weit verbreitet – auch bei vermeintlich seriösen Anbietern. Was dort behauptet wird, ist zwar grundfalsch, erfüllt aber seinen Zweck. Erschwerend kommt hinzu: Einige grundlegende Rechtsfragen – etwa, ob und wie genau das Arbeitszeitgesetz für in Privathaushalten untergebrachte Pflegekräfte gilt oder wie überhaupt die Arbeitszeit definiert ist – sind bislang nicht höchstrichterlich geklärt.
Durch das aktuelle Urteil des Berlin-Brandenburgischen Arbeitsgerichts rückt eine Klärung immerhin näher. Osteuropäische Betreuungs- und Pflegekräfte sind nicht so rechtlos, wie man ihnen einreden will. Frau Alekseva hat gute Chancen, wenigstens einen Teil des Lohnes zu erhalten, den ihr ihr Arbeitgeber vorenthalten wollte. Und: Das Urteil wirft ein Schlaglicht auf eine Branche, die ihre Geschäftsmodelle und die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten lieber vom Blick der Öffentlichkeit fernhalten will. Es wirft auch ein Schlaglicht auf eine verfehlte Politik, die Altenpflege weitgehend zur Privatsache erklärt, menschenunwürdige Beschäftigungsmodelle fördert und als scheinbar praktikable Lösung für die Nöte von Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen präsentiert. Und vielleicht zwingt das Urteil aus Berlin die Öffentlichkeit, endlich ehrlich darüber zu diskutieren, wie wir uns im reichen Deutschland menschenwürdige Versorgung alter Menschen vorstellen.
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