Deutscher Gewerkschaftsbund

Faire Mobilität, November 2022

Auch in der „24-Stunden-Pflege“: Bereitschaftszeit muss bezahlt werden

24 Stunden Betreuung

©Pixabay

»Ich bin stolz, dass ich diesen Schritt gewagt habe.« So kommentiert Dobrina Alekseva das Urteil  des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg (LAG) vom 5. September 2022. Nach einem mehr als vier Jahre dauernden Prozess, der bis vor das Bundesarbeitsgericht ging, sprach das LAG der Klägerin Anspruch auf Lohnnachzahlung in Höhe von 38.709 Euro brutto zu. Dobrina Alekseva hatte über Jahre als sogenannte  „24-Stunden-Pflegekraft“ eine über 90-jährige Seniorin in Deutschland in ihrer Privatwohnung betreut. In ihrem Arbeitsvertrag war allerdings nur eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vereinbart. Und nur für diese 30 Wochenstunden wurde sie auch bezahlt, mit 950 Euro netto im Monat.

Angestellt war Dobrina Alekseva bei einer bulgarischen »Entsendefirma«, zustande kam ihr Einsatz in Deutschland 2015 über eine deutsche Vermittlungsagentur.
Drei Jahre später klagte sie vor dem Arbeitsgericht auf Nachzahlung des damaligen gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro für jede gearbeitete Stunde, einschließlich der nächtlichen Bereitschaftszeiten.
Denn anders als die 30 Wochenstunden im Arbeitsvertrag nahelegten, hatte Dobrina Alekseva tatsächlich rund um die Uhr zur Verfügung stehen müssen.

Untergebracht war sie in der Wohnung der von ihr  betreuten Seniorin. Nachts musste die Betreuerin ihre Zimmertür offen stehen lassen, um im Notfall Hilfe  leisten zu können. Faktisch wurde von ihr erwartet, rund um die Uhr zur Stelle zu sein.

Obwohl Dobrina Alekseva bereits in der ersten Instanz mit ihrer Klage ihre Ansprüche weitgehend durchsetzen konnte, zog sich das Verfahren bis jetzt hin, weil  die bulgarische Arbeitgeberin der Klägerin mehrfach Rechtsmittel eingelegt hatte. Nachdem das LAG  im Oktober 2021 der Klägerin eine Lohnnachzahlung in Höhe von rund 38.000 Euro zugesprochen hatte, beantragte die Firma Revision vor dem Bundesarbeitsgericht. Dieses verwies den Fall zurück ans LAG, wo die Angelegenheit nun erneut verhandelt wurde.

Dabei war es für das Gericht nicht leicht, die tatsächliche Situation zu rekonstruieren. Nach umfangreichen Zeugenbefragungen, vor allem der Angehörigen der alten Dame, ergab sich am Ende jedoch ein schlüssiges Bild. Danach wurde der Klägerin lediglich ein »freier Tag« in der Woche zugestanden – der aber kein wirklich freier Tag war, weil sie erst nach dem Frühstück gehen und vor dem Abendessen zurück sein musste.

Die nun wahrscheinlich endgültige Entscheidung gibt den Ansprüchen der Klägerin weitgehend Recht. Nur für einen kleinen Teil der eingeklagten Zahlungen wies das Gericht die Klage ab. Hier sah es das Gericht nach der Beweisaufnahme als nicht zweifelsfrei erwiesen an, dass die Klägerin tatsächlich Bereitschaft geleistet  habe. Dabei ging es um Zeiten, die die Seniorin mit Familienangehörigen in ihrer Wohnung oder im Restaurant verbracht habe.

Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass Beschäftigte, gerade in der häuslichen Betreuung, ihre tatsächlich erbrachten Arbeitszeiten möglichst lückenlos, genau und nachvollziehbar dokumentieren. Auch wenn das Bundesarbeitsgericht im September 2022 klarstellte, dass die Arbeitszeiterfassung zu den Pflichten des Arbeitgebers gehört, sollten sich Beschäftigte niemals darauf verlassen, dass dies tatsächlich korrekt geschieht. Eigene Arbeitszeitaufzeichnungen sind deshalb ein Muss! Ein Notizbuch oder Taschenkalender reicht dafür aus und bietet im Fall eines Rechtsstreits auch nach Jahren eine deutlich bessere Argumentationsgrundlage gegenüber dem Arbeitgeber und kann vor Gericht entscheidend sein.

Das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg könnte unter Beschäftigten in der häuslichen Betreuung eine Signalwirkung haben. Denn die Zustände, gegen die sich Dobrina Alekseva wehrte, sind kein Einzelfall. Mehrere hunderttausend sogenannter »24-Stunden-Pflegekräfte«, überwiegend aus Osteuropa, arbeiten nach Expertenschätzungen in deutschen Seniorenhaushalten in oft rechtswidrigen Vertragskonstruktionen, unter hoch problematischen Arbeits- und Lebensbedingungen. Das Modell funktionierte über viele Jahre, auch weil viele Beschäftigte ihre Rechte nicht kennen und nur selten Zugang zu Gewerkschaften und Beratungsstellen wie denen von „Faire Mobilität“ finden.

Dies könnte sich dank des Erfolgs von Dobrina Alekseva und des breiten Medienechos nun ändern. Mehr Beschäftigte in ähnlicher Situation könnten Klagen einreichen, weil mit dem Vorliegen eines Präzedenzfalls die Erfolgsaussichten viel besser geworden sind. Das Urteil ist insbesondere für all jene wichtig, die als abhängig Beschäftigte in Deutschland arbeiten, ganz gleich ob direkt bei einer Familie angestellt oder aber bei einem Pflegedienst. Auch entsandte Arbeitnehmer*innen wie Dobrina, deren Vertrag zwar im Herkunftsland geschlossen wurde, die jedoch in Deutschland durch das Arbeitsrecht geschützt sind, können sich nun auf das Urteil berufen. Und auch die Politik wird ihr jahrelanges Wegsehen nicht länger durchhalten können, sondern sich – wie die Vorsitzende Richterin am LAG, Oda Hinrichs, formulierte – »des Themas annehmen müssen«.

Dobrina Alekseva ist jedenfalls nicht nur froh über ihren Erfolg, sondern auch, dass der Prozess endlich nach vier Jahren vorbei ist. Und sie möchte anderen Mut machen, ebenfalls für ihre Rechte einzustehen: »Es ist nämlich nicht nur mein Erfolg, ich habe auch für die vielen anderen Betreuer*innen gekämpft«, sagte sie nach der Verhandlung. Ohne die Hilfe der Gewerkschaft und der Beratung durch Faire Mobilität wäre ihr Erfolg nicht möglich gewesen, unterstreicht sie. Und ihr Ausblick auf die Zukunft: »Ich hoffe, dass sich jetzt die Gesetzgebung dahingehend ändert, dass die Betreuerinnen einen fairen Lohn bekommen und dort wo sie arbeiten, also in Deutschland, sozialversichert werden, damit der Lohn auch für bessere Renten sorgt!«

 


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