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Es zahlt sich aus, für das zu kämpfen, was einem zusteht – und das geht am besten mit einer Gewerkschaft. Das ist die Botschaft eines wegweisenden Urteils des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg zur berüchtigten „24-Stunden-Pflege“. Im Rechtsstreit um Lohnnachforderungen einer bulgarischen Beschäftigten sprach das Gericht im August der Klägerin den Anspruch auf Lohnnachzahlung in Höhe eines fünfstelligen Eurobetrags zu.
Die bulgarische Klägerin, Frau Alekseva (Name geändert), hatte über mehrere Jahre eine deutsche über 90-jährige Seniorin in ihrer Wohnung in einer Senioreneinrichtung betreut. Faire Mobilität hatte mehrfach über den Fall berichtet. Vermittelt worden war das Arbeitsverhältnis über eine deutsche Pflegeagentur, angestellt war die Beschäftigte bei einer Firma mit Sitz in Bulgarien. Obwohl ihr Arbeitsvertrag nur eine Arbeitszeit von 30 Wochenstunden vorsah, musste Frau Alekseva rund um die Uhr für Pflege- und Betreuungsaufgaben zur Verfügung stehen. Untergebracht war sie in der Wohnung der von ihr betreuten Frau, ihre Zimmertür musste sie nachts offen lassen, um jederzeit im Notfall helfen zu können. Vergütet wurde ihre Tätigkeit mit rund 950 Euro netto im Monat.
Das Gericht sah diese Konstruktion als rechtswidrig an. Die im Arbeitsvertrag vereinbarten 30 Wochenstunden seien „vollkommen unrealistisch“, urteilte die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht, Oda Hinrichs. Tatsächlich habe Frau Alekseva rund um die Uhr zu tun gehabt und bereit sein müssen. Allenfalls habe sie sich „hin und wieder“, schätzungsweise drei Stunden täglich, der Arbeit „entziehen“ können. Den Lohnanspruch der Klägerin bezifferte das Gericht auf dieser Grundlage auf 38.000 Euro, abzüglich des bereits gezahlten Entgelts. Damit hat die Klägerin, die einen Anspruch von 45.000 Euro geltend gemacht hatte, einen Großteil ihrer Forderungen durchsetzen können. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Gewerkschaft ver.di und dem DGB-Projekt Faire Mobilität.
Nach Ansicht einer Sprecherin des Gerichts hat das Urteil „grundsätzliche Bedeutung“. Von der Branche wird es mit Sicherheit aufmerksam zur Kenntnis genommen werden – stellt es doch deren lukratives Ausbeutungs- und Geschäftsmodell in Frage. Zwischen 100.000 und 500.000 „24-Stunden-Pflegekräfte“, meist aus Osteuropa, arbeiten nach Expertenschätzungen in deutschen Seniorenhaushalten in derartigen illegalen Vertragskonstruktionen und oft unter prekärsten Bedingungen. Das Modell funktionierte viele Jahre, weil die Politik wegschaute. Die Beschäftigten kennen in der Regel ihre Rechte nicht, leben und arbeiten in einer isolierten häuslichen Abhängigkeit und finden nur selten Zugang zu Gewerkschaften und Beratungsstellen.
Das Urteil wird sich aber auch unter den Betreuungskräften herumsprechen. Denn der aktuelle Fall zeigt, was möglich ist, wenn eine Beschäftigte mit gewerkschaftlicher Unterstützung ihre Rechte einklagt. Die Lohnforderungsklage von Frau Alekseva wird deshalb ganz sicher nicht die letzte in Sachen „24-Stunden-Pflege“ bleiben.
Zu Ende ist der Rechtsstreit allerdings wohl noch nicht. Wegen der hohen Streitsumme und der grundsätzlichen Bedeutung für das Geschäftsmodell der gesamten Branche, ist davon auszugehen, dass die bulgarische Firma Revision vor dem Bundesarbeitsgericht beantragen wird. Voraussichtlich im nächsten Jahr (2021) wird es dann ein höchstrichterliches Urteil geben.
Ausgabe 10/2020
Faire Mobilität
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