Deutscher Gewerkschaftsbund

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Betrogen bei der Ernte

Erntehelfer

Faire Mobilität

Sechzehn polnische Erntehelferinnen und Erntehelfer staunten nicht schlecht, als sie kurz vor Ablauf ihres Arbeitsvertrages ihre Stundenabrechnungen ausgehändigt bekamen. Zwei Monate lang hatten sie in der Erdbeerernte bei einem großen Beerenproduzenten in Niedersachsen gearbeitet – zwischen 250 und 300 Stunden. Bezahlen wollte der Arbeitgeber aber nur die Hälfte, teilweise weniger. Wer die Abrechnung beanstande, wurde ihnen signalisiert, brauche sich im nächsten Jahr nicht mehr um den Job zu bewerben.

Obwohl die geplante Heimreise in wenigen Tagen bevorstand, nahmen sie ihren Mut zusammen und wandten sich an die Beratungsstellen des DGB-Projekts »Faire Mobilität« in Frankfurt und Oldenburg. Die Kontaktdaten hatten sie, weil sie bei einer Infoaktion von Faire Mobilität auf den Feldern Flugblätter mit einer Zusammenfassung ihrer Rechte als Saisonbeschäftigte in die Hand bekommen hatten.

Bei der Überprüfung der Arbeitsunterlagen durch »Faire Mobilität« zeigten sich schnell gravierende Unregelmäßigkeiten. Die Abrechnungen stimmten ganz und gar nicht mit den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden überein: Lediglich 40 bis 50 Prozent der Leistung wollte die Firma vergüten. So wurden etwa bei einer Person, die über zwei Monate 301,5 Stunden gearbeitet hatte, vom Arbeitgeber lediglich 170 Stunden abgerechnet – eine Differenz von 131,5 Stunden sollte nicht bezahlt werden. In Geld ausgedrückt: Der Arbeitgeber wollte den Beschäftigten um Lohn in Höhe von 1162,46 Euro prellen. Auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen ging es um Summen von deutlich über 1000 Euro.

Der Trick der Firma: Sie legte einen Stücklohn (Akkord) fest, der so hoch angesetzt war, dass ihn niemand erreichen konnte. Nachträglich wurde die erreichte Stückleistung wieder in Stunden zurückgerechnet. Der gesetzliche Mindestlohn sollte damit – so behauptete der Arbeitgeber – formal eingehalten sein.

Dass diese Rechtsauffassung mehr als abenteuerlich war, muss ihm allerdings selbst schon klar gewesen sein. Nachdem ein Berater von »Faire Mobilität«, die Betroffenen über ihre Rechte aufgeklärt hatte und den Chef mit den überprüften Lohnabrechnungen konfrontierte, erklärte sich die Firma schnell bereit, die ausstehenden Löhne in voller Höhe auszuzahlen – einen Tag, bevor die Saisonkräfte wie geplant wieder in ihre Heimat zurückfuhren.

Eine Skandalisierung des Falles in der Öffentlichkeit wäre für den Betrieb schmerzhaft gewesen

Die Beschäftigten waren ein hohes Risiko eingegangen: Ihre von der Firma organisierte, unmittelbar bevorstehende Rückreise stand auf dem Spiel. Schlimmstenfalls hätten sie gar kein Geld bekommen. Allerdings hatte die Beratungsstelle für den Fall, dass der Arbeitgeber sich stur stellen würde, vorgesorgt: »Wir hatten Kontakt mit der zuständigen Gewerkschaft IG BAU, der Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung und einem uns wohlgesonnenen Lokaljournalisten aufgenommen. Für den Familienbetrieb, der ein wichtiger Zulieferer für eine große Lebensmittelhandelskette ist, wäre eine Skandalisierung in der Öffentlichkeit schmerzhaft gewesen«, berichtet Berater Piotr Mazurek. Für den Fall, dass der Arbeitgeber die Erntehelfer aus der Unterkunft wirft, hätte man sich bei der Kirche und der Gemeinde um Notübernachtungsmöglichkeiten bemüht.

 

Erntehelfer

Faire Mobilität

Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten haupt- und nebenberuflich in der deutschen Landwirtschaft – knapp ein Drittel davon, etwa 300.000 – sind Saisonkräfte. Ohne sie wäre die Erntezeit nicht zu bewältigen – vom Spargelstechen im April bis zur Weinlese, die Mitte Oktober endet. Drei Viertel der Saisonkräfte kommen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Seit 1. Juli 2015 gelten für zeitlich befristet beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den EU-Mitgliedstaaten keine Zulassungsbeschränkungen mehr. Aufbauend auf dem Mindestlohngesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, gibt es für die Landwirtschaft einen Mindestentgelt-Tarifvertrag. Für 2019 liegt der Mindestlohn bei 9,19 Euro pro Stunde, 2020 soll er auf 9,35 Euro steigen.

In der Praxis wir der Mindestlohn oft umgangen

Papier und Realität sind allerdings zwei verschiedene Dinge. In der Praxis wird der Mindestlohn oft umgangen: durch rechtswidrige Akkordregelungen wie im oben geschilderten Fall und unbezahlte Überstunden. Gelegentlich werden Arbeitskräfte auch als »Praktikanten« deklariert, wie in einem Ende Juni bekannt gewordenen Fall in Brandenburg. Einer der größten Spargelproduzenten hatte ukrainische Landwirtschaftsstudentinnen und -studenten für Stundenlöhne unter sechs Euro als billige Arbeitskräfte auf seinen Feldern eingesetzt. Die vereinbarte »Vermittlung agrarischen Fachwissens« fand nicht statt. Die Angelegenheit kam nur deshalb an die Öffentlichkeit, weil der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) aufgrund der Recherchen der Fachstelle für Migration und gute Arbeit in Brandenburg berichtete.

Für die Unterkünfte, die in der Regel durch die Agrarbetriebe selbst bereitgestellt werden, ziehen diese mitunter überhöhte Kosten vom Lohn ab und kassieren auf diese Weise doppelt. Neben der Miete für die Unterkünfte werden oft auch überhöhte Verpflegungskosten und andere Sachleistungen vom Lohn abgezogen.

Unterkünfte sind oftmals nicht nur überteuert, sondern auch überbelegt. Da sie in der Regel weit ab von öffentlichen Wegen auf den Grundstücken der Agrargroßbetriebe liegen, ist es für Gewerkschaften und die Berater und Beraterinnen von »Faire Mobilität« schwierig, Zugang zu bekommen. Auch die staatlichen Arbeitsschutzbehörden, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung und Berufsgenossenschaften sind regelmäßig überfordert und kontrollieren viel zu selten.

Haupthindernis für eine Verbesserung der Situation ist aber, dass die Beschäftigten oft ihre Rechte nicht kennen und kein Deutsch sprechen. Das DGB-Projekt »Faire Mobilität«, die Agrargewerkschaft IG BAU und das Bündnis »Faire Landwirtschaft« versuchen deshalb alljährlich, vor allem zu Beginn der Saison, Erntehelferinnen und Erntehelfer über ihre Rechte aufzuklären. Denn um gegen konkrete Verstöße  – wie etwa ein Unterlaufen des Mindestlohns – effektiv vorgehen zu können, ist es notwendig, dass die Beschäftigten die Initiative ergreifen. Im eingangs geschilderten Beispiel hat es sich für die Betroffenen auch finanziell ausgezahlt, nicht klein beizugeben, und auf ihr Recht zu pochen.


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