Faire Mobilität
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Dobrina D. wohnt in Nessebar, einer Kleinstadt an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Eigentlich ein schöner Ort, um den Ruhestand zu genießen. Doch davon hat Dobrina D., die in Deutschland jahrelang Senior*innen gepflegt hat, nichts. Die 73-Jährige bezieht umgerechnet 260 Euro Rente im Monat. Schon für eine Person ist das wenig, auch in Bulgarien. „Da ich auch meine Tochter und die Enkel unterstütze, muss ich ganz genau rechnen, wofür ich Geld ausgebe“, sagt sie.
Eigentlich sollte Dobrina D. mehr auf dem Konto haben: 32.029 Euro mehr, um genau zu sein. Diese Summe hatte ihr im September 2022, nach mehr als vier Jahren Rechtsstreit, das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zugesprochen. Es ist Geld, das der ehemaliger Arbeitgeber Dobrina schuldet, eine bulgarische Firma, die sie nach Deutschland entsandt hatte. Doch die Firma zahlt nicht. Ihr Geld wird Dobrina D. wohl nie erhalten.
Dobrinas Fall hatte seinerzeit für Schlagzeilen gesorgt, weil er ein grelles Licht auf eine Branche warf, die von Ausbeutung und Unterbezahlung hunderttausender Betreuungskräfte vor allem aus Osteuropa lebt. Es war ein Präzedenzurteil für die sogenannte 24-Stunden-Pflege, der Fall ging bis zum Bundesarbeitsgericht. Das hatte schließlich entschieden, was eigentlich selbstverständlich klingt, in der häuslichen Betreuung aber die Ausnahme ist: Wer rund um die Uhr verfügbar ist, muss auch die gesamte Zeit als Arbeitszeit bezahlt bekommen.
Dobrina D. hatte über Jahre als sogenannte 24-Stunden-Pflegekraft in Deutschland gearbeitet. Zuletzt hatte sie eine Rentnerin in deren Wohnung in einer Berliner Seniorenresidenz betreut. Für die über 90-jährige Patientin war sie rund um die Uhr erreichbar, auch nachts: Die Tür zwischen ihrem Schlafzimmer und dem der Seniorin musste stets offenbleiben, damit sie im Notfall Hilfe leisten konnte. Manchmal musste Dobrina mehrmals in der Nacht aufstehen, Medikamente verabreichen oder Windeln wechseln. Über ihre Arbeit im Jahr 2015 sagt sie: „Ich musste 24 Stunden zur Verfügung stehen. Es gab keine freien Tage, Zeit für mich hatte ich nicht.“ In ihrem Arbeitsvertrag war allerdings nur eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden vereinbart: sechs Stunden pro Tag an fünf Tagen die Woche. Und nur für diese 30 Wochenstunden wurde sie bezahlt, mit insgesamt 950 Euro netto im Monat.
Der Fall ist typisch, unter ähnlichen Bedingungen arbeiten bis zu 700.000 Frauen in Deutschland, die wie Dobrina D. von deutschen Agenturen in Seniorenhaushalte vermittelt werden. Untypisch ist, dass eine dieser Frauen vor Gericht zieht, über sechs Jahre durchhält und am Ende sogar Recht bekommt.
Dobrinas Weg durch die Instanzen
Der Weg dahin begann mit einem ersten ungewöhnlichen Schritt: Dobrina D. suchte 2016 Rat bei der DGB-Beratungsstelle für entsandte Beschäftigte, später bei Faire Mobilität. Dann zog sie vor Gericht – und gewann. Die bulgarische Entsendefirma legte Widerspruch ein, und so wanderte der Fall durch die Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht, das im Juni 2021 das Urteil bestätigte und grundsätzlich klarstellte: Jede Arbeits- und Bereitschaftsstunde muss mit dem Mindestlohn vergütet werden. Ein Paukenschlag für die sogenannte 24-Stunden-Pflege.
Das endgültige Urteil erging ein Jahr später. Im September 2022 entschied das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg: Dobrina D. hat Anspruch auf 38.709 Euro Lohnnachzahlung für die im Jahr 2015 geleistete Arbeit – abzüglich der 6.680 Euro netto, die sie als Lohn erhalten hat. „Ich bin stolz, dass ich diesen Schritt gewagt habe“, sagte sie nach dem Urteil. Mit dem Geld, so erklärte sie seinerzeit, wolle sie ihren Enkelkindern eine gute Bildung ermöglichen, damit sie sich nicht als Niedriglohnarbeiter*innen im Westen abrackern müssen.
Ende gut, alles gut? Es kam leider anders. Um das Urteil zu vollstrecken, beauftragte Dobrina D. mit Unterstützung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine Anwaltskanzlei in Sofia. Von der kamen schlechte Nachrichten: Vollstreckung nicht möglich.
Offenbar waren auch die Inhaber der bulgarischen Entsendefirma nicht untätig gewesen. Schon mit Beginn des Prozesses nahm die Geschäftstätigkeit der Firma spürbar ab. Die Zahl der Mitarbeiter*innen sank von 68 im Jahr 2017 auf nur noch einen im Jahr 2019. Firmenumbenennungen, Geschäftsführer- und Eigentümerwechsel folgten. Als der Gerichtsvollzieher schließlich an die Firma herantrat, erklärte der neue Geschäftsführer, über keinerlei Rücklagen zu verfügen, und stellte Antrag auf Insolvenz.
Aufgrund des ungünstigen bulgarischen Insolvenzrechts wäre jeder weitere juristische Schritt mit hohen Kosten für Dobrina D. verbunden – und ohne echte Aussicht auf Erfolg. Der Rechtsweg in Bulgarien ist für sie damit zu Ende. Es bleibt das traurige Fazit: Recht bekommen, heißt nicht Geld bekommen. Nach jahrelanger Ausbeutung und anschließendem jahrelangen Rechtsstreit steht Dobrina D. mit leeren Händen da.
Ausgebeutet und allein gelassen
Schuld daran ist nicht nur die bulgarische Entsendefirma, die sich der Vollstreckung entzogen hat. Es ist auch das System der sogenannten 24-Stunden-Pflege, das den enormen Betreuungsbedarf in Deutschland mit Betreuer*innen aus Osteuropa deckt – und diese oft um einen beträchtlichen Teil ihres Lohns prellt.
Vermittlungsagenturen wie die Deutsche Seniorenbetreuung, die Dobrina D. über die bulgarische Entsendefirma angeworben hatte, versprechen ihren Kund*innen eine „häusliche 24-Stunden-Betreuung“ beginnend ab 2.590 Euro im Monat. Auf seiner Website betont das Unternehmen mit 20 Standorten in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass für entsandte Betreuungskräfte selbstverständlich das deutsche Arbeitszeitgesetz gelte, und verweist auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Doch bei Verstößen winden sich die Vermittlungsfirmen dank einer Regulierungslücke aus der Verantwortung. „In der Praxis findet geltendes Arbeitsrecht kaum Anwendung, Mindeststandards werden häufig unterschritten. Da die Frauen isoliert in Privathaushalten arbeiten und ihre Rechte oft nicht kennen, landet kaum einer dieser Fälle je vor Gericht“, sagt Justyna Oblacewicz, Beraterin bei Faire Mobilität in Frankfurt am Main, die Dobrina D. auf ihrem Weg begleitet hat. Und so machen Vermittlungsagenturen wie die Deutsche Seniorenbetreuung und viele andere weiter Gewinne auf dem Rücken osteuropäischer Frauen.
Der Fall von Dobrina D. macht klar, dass der Klageweg allein an den Zuständen nichts ändert. Die himmelschreiende Ausbeutung kann nur auf politischem Weg gestoppt werden. Doch das Versprechen, „eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich“ zu gestalten, die die Ampelregierung in den Koalitionsvertrag geschrieben hatte, wurde bislang nicht umgesetzt und ist in dieser Legislatur auch nicht mehr in Sicht.
Für Dobrina D. ist dies ein bitteres Ende ihres jahrelangen Kampfes um Gerechtigkeit. Ihre finanziellen Sorgen werden bleiben. „Ich bin sehr enttäuscht, traurig und auch wütend“, sagt die 73-Jährige. „Ich wollte ja nichts geschenkt. Ich wollte immer nur das Geld, für das ich gearbeitet habe.“
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