Deutscher Gewerkschaftsbund

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Ausgeschlachtet – Werkvertragsbeschäftigte in der Fleischindustrie

von Szabolcs Sepsi und Dominique John

In der Fleischindustrie wird in einigen Wochen der Mindestlohn auf 9 Euro angehoben. Das ist zwar eine Verbesserung, ändert aber nichts daran, dass sich die Unternehmen in der Branche systematisch weigern, Verantwortung für die schlechten Arbeitsbedingungen zu übernehmen. Die Zeche für diese Praktiken zahlen die Beschäftigten mit ihrer Gesundheit und wird – wie inzwischen immer deutlicher wird – ansonsten der Allgemeinheit überlassen.

 

Schlachter

© industryview / iStock

Im November 2017 tagte in Gütersloh der Sozialausschuss. Das Thema: die Arbeits- und Lebenssituation der ausländischen Werkvertragsbeschäftigten. Werkvertragsbeschäftigte sind Menschen, die in vielen Großbetrieben – in Gütersloh vor allem in der Fleischindustrie – eingesetzt werden, ohne bei den Betrieben angestellt zu sein. Stattdessen haben sie Arbeitsverträge mit Subunternehmen, die wiederum Werkverträge mit den Industriebetrieben unterhalten. Die Arbeitssituation und insbesondere die psychosozialen Bedingungen sind für viele dieser Beschäftigten und ihre Familien extrem schlecht, berichtete ein Wohlfahrtsverbandsvertreter vor dem Ausschuss. Zudem brächten Sprachbarrieren viele Schwierigkeiten mit sich. Richtig aufhorchen ließ die Ausschussmitglieder aber eine nüchterne Statistik: Seit acht Jahren wächst in der Stadt die Anzahl der Anwohner aus Rumänien und Polen um jährlich 300 bis 400 Menschen. In den Nachbargemeinden ist die gleiche Tendenz zu beobachten. Was ist geschehen?

Der Landkreis Gütersloh ist eine Hochburg der Schlachtindustrie. Die Firma Tönnies etwa betreibt hier den größten Schweineschlachthof Europas. In diesem Betrieb schlachten und verarbeiten jeden Tag rund 4.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Mehrzahl von ihnen kommt aus osteuropäischen EU-Ländern, etwa 25.000 Schweine. Jede Woche sind es geschätzte zwei Busladungen voll von Berufsanfängern, die zum städtischen Gesundheitsamt kommen, um Gesundheitszeugnisse zu beantragen – sie sind ein Muss, um in der Lebensmittelindustrie arbeiten zu können. Viele Zugereiste verlassen den Landkreis nach wenigen Wochen oder Monaten wieder. Die einen, weil sie der extremen Arbeitsbelastung – dem hohen Tempo und dem enormen Arbeitspensum – nicht standhalten, die anderen, weil sie eine andere Möglichkeit gefunden haben, in Deutschland Geld zu verdienen. Letzteres möchte man ihnen wünschen, denn die Fleischindustrie behandelt Arbeitnehmer aus dem Ausland wie Verbrauchsmaterial, das man bei externen Dienstleistern einkauft und nach Verschleiß austauscht.

So ist es zum Beispiel dem Bulgaren Ivan Damilov[*] ergangen:Damilov findet nach 15 Jahren in Griechenland keinen Job mehr und versucht sein Glück in Deutschland. Er heuerte bei einem Subunternehmen in einem Schlachthof an (kein Betrieb der Firma Tönnies[**]). Seine Aufgabe: das Zertrennen von Schweineköpfen mit einer großen elektrischen Säge. Das diktierte Tempo ist nicht zu schaffen. Kaum hat er das eine Tier zerteilt, ist schon das nächste an der Reihe. Hinter ihm steht ein Vorarbeiter, der ihn anbrüllt: Schneller, schneller! So geht das stundenlang. Irgendwann bleibt die Säge in einem Schweinekopf hängen. Damilov will sie herausziehen, fasst die Säge kurz von unten an, um sie hochzuheben, so erzählt er es später. Dabei passiert das Unglück. Die Säge frisst sich durch den Schutzhandschuh und trennt das letzte Glied seines kleinen Fingers fast vollständig ab.

Das diktierte Tempo ist nicht zu schaffen

Niemand ruft einen Krankenwagen. Stattdessen schreit ein Vorgesetzter einen Kollegen an, der Damilov zu helfen versucht, er solle sofort einspringen, damit das Fließband nicht gestoppt werden müsse. Der Finger wird vor Ort notdürftig verbunden und Damilov nach Hause geschickt. Das Wochenende steht vor der Tür, er soll am Montag wieder normal zur Arbeit kommen, heißt es. Zwei Tage lang hält Damilov die Schmerzen aus. Am Montagmorgen sucht er Hilfe. In einer Apotheke verständigt er sich mit Händen und Füßen. Eine dortige Kundin nimmt sich seiner an und bringt ihn ins Krankenhaus. Damilov wird sofort operiert. Anschließend wird er im Krankenhaus mehrere Tage stationär behandelt.

Aus dem Krankenhaus entlassen, muss er feststellen, dass sein Bett in der Arbeiterunterkunft bereits neu belegt ist. Er könne nach Bulgarien zurückkehren, wird ihm mitgeteilt. Der völlig überrumpelte Damilov versteckt sich in der Unterkunft seiner Frau, schläft in ihrem Bett, während sie und ihre Zimmerkolleginnen arbeiten. Mehrere Tage schlägt er sich so durch, bis er von der Beratungsstelle „Faire Mobilität“ erfährt und Kontakt aufnimmt. Mithilfe einer Beraterin gelingt es ihm, sein nicht mehr gezahltes letztes Monatsgehalt zu erstreiten. Gemeinsam sorgen sie auch dafür, dass der Arbeitsunfall bei der Berufsgenossenschaft gemeldet wird, was vonseiten des Unternehmens bislang nicht geschehen ist.

Die Schlachthofunternehmen können es sich erlauben, mit Menschen wie Herrn Damilov so umzuspringen, weil sie über ein System von Subunternehmern und Vermittlern in der Lage sind, jederzeit „Nachschub“ zu organisieren. Juristisch ist dieses Vorgehen kaum angreifbar, weil ein Großteil der Arbeitskräfte keinen direkten Vertrag mit den Unternehmen hat, sondern bei Subunternehmen angestellt ist. Im Produktionsbereich der Fleischindustrie betrifft dies bis zu 90 Prozent der Beschäftigten. Bei den Subunternehmen handelt es sich häufig um Briefkastenfirmen, die, sobald Probleme entstehen, vom Markt verschwinden und dann unter neuem Namen wieder auftauchen. Bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sind kaum durchsetzbar. Gelingt es den Beschäftigten, die Konditionen bei den Subunternehmen zu verbessern, droht deren Insolvenz, wie das jüngste Beispiel eines größeren Subunternehmens aus der Branche zeigt: Den Angestellten dieses Unternehmens war es, nachdem sie dort mehrere Jahre beschäftigt waren, gelungen, bescheidene Lohnerhöhungen durchzusetzen. Daraufhin suchte sich der Auftraggeber dieses Subunternehmens einen neuen, billigeren Dienstleister. Das Subunternehmen ging pleite und die Mitarbeiter, zumeist Facharbeiter aus Rumänien, wurden drei Monate aus der Insolvenzgeldkasse bezahlt. Gleichzeitig erhielten sie ein Angebot, bei dem neuen Dienstleister unter Vertrag zu gehen, allerdings zu schlechteren Konditionen als zuvor – versteht sich. Trotzdem willigten die Facharbeiter ein. Schließlich – so wurde ihnen klargemacht – gäbe es genug Rumänen, die sich über einen solchen Job freuen würden. 

Verschlissene Arbeitskräfte werden einfach ausgetauscht

Überall dort, wo Werkverträge als Mittel eingesetzt werden, um Arbeitskräfte wie Verschleißmaterial zu behandeln, ist die Mitarbeiterfluktuation enorm hoch. Das bestätigen im Übrigen auch Unternehmensvertreter. Inzwischen werden die Arbeitskräfte aus immer ärmeren Regionen Osteuropas rekrutiert: Erst waren es Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien, jetzt kommen sie aus Moldawien oder der Ukraine. Diejenigen, die es schaffen, eine andere Arbeit als die in den Schlachthöfen zu finden, verlassen die Gegend schnellstmöglich. Andere werden „aussortiert“, weil sie krank werden oder die Leistung nicht mehr erbringen können. Spricht man mit Beschäftigten, die es trotz der miserablen Bedingungen geschafft haben, mehrere Jahre durchzuhalten, berichten sie von multiplen chronischen Leiden, die auf die harte körperliche Arbeit, auf die Feuchtigkeit und Kälte und auf das viel zu hohe Arbeitstempo zurückzuführen sind. Viele erzählen zudem, dass sie nur durch die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln in der Lage sind, ihre Schichten durchzuhalten. Wenn es dann gar nicht mehr geht, ist es aufgrund der rechtlichen Konstruktion der Werkverträge und der etablierten Personalvermittlungssysteme ein Leichtes für die Unternehmen, diese verschlissenen Arbeitskräfte einfach auszutauschen.

Mittlerweile hat sich die Situation dahingehend entwickelt, dass die aus dem Arbeitsprozess „aussortierten“ Menschen nicht notwendigerweise ihre Sachen packen und „nach Hause“, nach Rumänien oder Bulgarien, zurückkehren. Die „kostenlose“ Entsorgung von Arbeitskräften, die im Produktionsprozess nicht mehr „gebraucht“ werden, funktioniert nicht mehr automatisch über deren freiwillige Rückkehr. Vielmehr haben einige von ihnen – trotz der widrigen Umstände – im Laufe der Jahre Orte wie Gütersloh oder Rheda-Wiedenbrück zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht und ihre Familien nachgeholt. Ihre Kinder gehen hier zur Schule, soziale Bindungen sind entstanden. Häufig sind diese Menschen aber aufgrund der jahrelangen extensiven Ausbeutung psychisch und physisch am Ende. Sie steuern auf Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut zu. Hinzu kommt, dass viele von ihnen während ihrer Beschäftigung in der Fleischindustrie keine Sprachkurse und andere Integrationsangebote wahrnehmen konnten und deshalb häufig kaum Deutsch sprechen. Die Arbeitgeber erwarten, dass die Männer und Frauen rund um die Uhr zur Verfügung stehen, Überstunden werden oft spontan angekündigt, Schichtpläne kurzfristig geändert oder sofortige Arbeitseinsätze per SMS angeordnet. Zudem erschweren die langen Arbeitszeiten von zehn Stunden und mehr am Tag sowie eine auf Abschottung angelegte Unterbringung die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben der Gemeinden. Es sind lediglich Einzelne, die unter diesen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Lage sind, Deutsch auf einem alltagstauglichen Niveau zu erlernen.

 Wer seinen Job verloren hat, ist häufig krank und verbraucht


Die Folgen dieser Beschäftigungspraxis sind heute in Gütersloh spürbar. Von den über 1.800 Rumänen und 1.900 Polen, die inzwischen im Kreis Gütersloh gemeldet sind, haben viele Familien – wie die Experten dem Sozialausschuss berichteten – aufgrund des systematischen Ausschlusses vom öffentlichen Leben mit schwerwiegenden sozialen Problemen zu kämpfen. Zwar hat es in den letzten Jahren in der Branche leichte Verbesserungen gegeben. Dazu zählen etwa der seit 2015 gültige allgemeinverbindliche Mindestlohn sowie dessen Erhöhung auf 9 Euro, der nach neuerlichen Verhandlungen in Kürze in Kraft treten wird. Auch das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft, das im Juli 2017 verabschiedet wurde, verbessert die Ausgangssituation der Beschäftigten. Allerdings ändern diese gesetzlichen Neuerungen nichts am Kern des Problems, nämlich der systematischen Verantwortungslosigkeit der Branche gegenüber einem Großteil der eingesetzten Arbeitskräfte. Notwendig ist daher die Initiierung eines politischen Prozesses, der die Branche dazu zwingt, die Verantwortung für das eigene Personal zu tragen und nicht über Werkverträge an Personaldienstleister abzugeben. Um die Situation der Beschäftigten grundsätzlich zu verbessern, müssten nicht zuletzt die Betriebsräte für die gesamte Belegschaft an einem Standort zuständig sein und nicht nur für den Bruchteil derjenigen, die eine Festanstellung haben. Die Arbeitsprozesse müssten so gestaltet werden, dass sie nicht die Gesundheit der Menschen ruinieren. Und Beschäftigte, die aus dem Ausland kommen, müssten die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen und am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben. Zudem müsste der Praxis, die in vielen Schlachtbetrieben gebräuchlich ist,  Gewerkschaftern in alter Hausherrenmanier Hausverbote zu erteilen, ein Riegel vorgeschoben werden.

Wenn die Allgemeinheit dieser menschenverachtenden, systematischen Ausschlachtung von Arbeitskräften nicht weiter zusehen will und zudem nicht bereit ist, die Folgekosten der Ausbeutungspraxis der Unternehmen in der Fleischindustrie zu tragen, muss ein politisches Umdenken eingeleitet werden. Die Instrumente dafür sind vorhanden.



[*] Name geändert

[**] Klarstellung: Eine frühere Version dieses Artikels könnte bei einige Lesern den Eindruck erweckt haben, die geschilderten Ereignisse um Ivan Damilov hätten sich im Betrieb der Firma Tönnies zugetragen. Dieses Verständnis war nicht beabsichtigt. Die Ereignisse haben sich in einem anderen Betrieb zugetragen. 


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