Deutscher Gewerkschaftsbund

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Odyssee durch den Dschungel des deutschen Sozialrechts

Der kroatische Bauarbeiter Mario Muzur (*) ist seit einem Sturz vom Baugerüst querschnittsgelähmt. Dreieinhalb Jahre kämpfte er für die Anerkennung seines Arbeitnehmerstatus und mit den Behörden. Ohne Unterstützung hätte er den Kampf wahrscheinlich verloren.

Als sich Mario Muzur entschied auf einer deutschen Baustelle fern seiner Heimat zu arbeiten, war seine Frau mit dem zweiten Kind schwanger. Er wollte seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen und entschied, als Bauarbeiter nach Deutschland zu gehen. Muzur war froh, in Süddeutschland schnell und unkompliziert Arbeit gefunden zu haben. Legale Arbeit, angemeldet und ordentlich abgesichert, das war im wichtig und davon ging er aus, als er seinen Vertrag unterschrieb. Vier Monate später löste sich diese vermeintliche Sicherheit in Luft auf. Während der Arbeit auf einer Baustelle in Stuttgart stürzte Mario Muzur von einem schlecht gesicherten Baugerüst. Er wurde umgehend in die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Tübingen gebracht und dort versorgt. Schon nach den ersten intensivmedizinischen Maßnahmen und Untersuchungen war klar: Mario Muzur wird zeitlebens querschnittsgelähmt bleiben.

Eine schreckliche Gewissheit, neben sehr viel Ungewissem. Denn schon in der Klinik entpuppte sich der Vertrag, den er vier Monate vor dem Arbeitsunfall mit sehr rudimentären Deutschkenntnissen unterschrieben hatte, nicht als Arbeitsvertrag, sondern als Gesellschaftervertrag. Zudem wurde klar, dass er lediglich über eine Reiseversicherung krankenversichert war. Diese zweite Hiobsbotschaft stürzte den Bauarbeiter gänzlich in Verzweiflung. Angesichts seiner geringen deutschen Sprachkenntnisse und weil er das deutsche Rechtssystem und seine verschiedenen Gesellschaftsformen nicht überblicken konnte, wandte er sich an Faire Mobilität in Stuttgart, wo er von einer kroatisch-sprachigen Beraterin betreut wurde, die die Betriebsseelsorge als örtlichen Projektpartner um Unterstützung bat. Die Odyssee durch die Sozialgesetzgebung begann.

 

Baustelle

© Christoph Boeckheler

 

"Er wollte seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen und entschied, als Bauarbeiter nach Deutschland zugehen"

Ohne Hilfe der Betriebsseelsorge der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Beraterinnen von Faire Mobilität und ohne den engagierten ehrenamtlichen Einsatz eines Fachanwaltes für Arbeits- und Sozialrecht, wäre Mario Muzur in den folgenden drei Jahren im Dschungel der deutschen Sozialbehörden vermutlich untergegangen. Das grundsätzliche Problem war, dass die Berufsgenossenschaft BAU, die bei Arbeitsunfällen von Bauarbeitern die Kosten für die Heilbehandlung, Verletzten- und Übergangsgeld und Rente übernimmt, Herrn Muzur nicht als Arbeitnehmer behandelte, sondern als Unternehmer. Der von ihm unterschriebene Vertrag wies ihn als Mitgesellschafter einer GbR aus, die wiederum im Auftrag einer deutschen Firma im Landkreis Esslingen tätig war. Als Unternehmer aber hätte er sich bei einer Krankenkasse selbst versichern müssen. Da er dies aus Unwissenheit nicht getan hatte, sah sich weder die Krankenkasse in der Pflicht, noch die Agentur für Arbeit, die die Sicherung des Lebensunterhalts an das Jobcenter delegierte. Auch die Frage, wer für den Unfall haftbar war, war damit uneindeutig und musste vor Gericht geklärt werden.

„Bis auf Herrn Muzur, der sich psychosozial betrachtet in einer sehr schwierigen Situation befand, war uns allen klar, dass sich die gerichtlichen Auseinandersetzungen über Jahre hinziehen würden“, erinnert sich der Betriebsseelsorger Wolfgang Herrmann. „Wir haben Herrn Muzur immer wieder besucht. Anfangs in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, dann in der Reha, später in einem Übergangswohnheim und dann in einer vom Sozialamt bezahlten Arbeiterunterkunft in Stuttgart. Es ging nicht zuletzt darum, ihn moralisch aufzubauen und auch immer wieder finanziell zu unterstützen. Mal war er im Rechtskreis Jobcenter versichert, mal in der Sozialhilfe und dann gab es Phasen, in denen er keinem Rechtskreis zugeordnet war, das heißt ab und an war er komplett ohne Bezüge.“

"Herr Muzur wäre ohne eine gemeinsame Kraftanstrengung verschiedener Organisationen wahrscheinlich verloren gewesen"

Über den Solidaritätsfonds der Betriebsseelsorge, aus Kollekten von Weihnachtsgottesdiensten und von Spenden eines IG-Metall-Betriebsrates aus Sindelfingen konnte Mario Muzur und phasenweise auch seine in Kroatien lebende Frau und die beiden Kinder immer wieder unterstützt werden. Wie erwartet, zogen sich die Verfahren und die verschiedenen beim Sozialgericht anhängigen Klagen über einen langen Zeitraum hin.

Nach dreieinhalb Jahren zäher Auseinandersetzungen war es so weit. Die Hartnäckigkeit aller Beteiligten hatte sich gelohnt: Mario Muzur wurde nachträglich vom zuständigen Gericht der Arbeitnehmerstatus zugesprochen. Seine selbstständige Tätigkeit war als Scheinselbstständigkeit enttarnt worden. Somit war er während des Unfalls versichert und erhält nun von der Berufsgenossenschaft eine Heilbehandlung sowie eine lebenslange Rente.

Seit Januar 2018 wohnt er endlich in einer behindertengerechten, barrierefreien Wohnung in Stuttgart. Im gleichen Monat ist seine Frau mit den beiden Töchtern nachgezogen.

Betriebsseelsorger Herrmann sieht den Fall als symptomatisch für die Situation im Baugewerbe. Schließlich - so betont er - arbeiten viele ausländische Bauarbeiter häufig ohne Versicherungsschutz und ohne dass ihnen die möglichen Konsequenzen klar wären, als Kleinunternehmer im Baugewerbe. "Herr Muzur jedenfalls wäre ohne gemeinsame Kraftanstrengung verschiedener Organisationen wahrscheinlich verloren gewesen."

(*) Name geändert


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